1. Beispiel: Theatersterben: Das Kindermusiktheater „Atze“ in Berlin Wedding
2. Beispiel: Der zu niedrig angesetzte Finanzbedarf der öffentlich-rechtlichen Sender
„Saufen Saufen Saufen Saufen Saufen Fressen und Ficken
Saufen Saufen Saufen und die Kinder Bier holen schicken“
Diese Zeilen stammen von dem großartigen Liedermacher Funny van Dannen, und sie beschreiben überaus treffend die Geistes- und Gemütslage einer wachsenden Bevölkerungsgruppe im „Land der Dichter und Denker“, die ich „Kulturtrolle“ nennen möchte. Kulturtrolle finden Hochkultur scheiße und die Tatsache, dass sie sie mit ihren Steuern finanzieren sollen, eine Riesensauerei. Einige Kulturtrolle mögen tatsächlich, wie Funny van Dannen singt, ihre Kinder Bierholen schicken, andere entsprechen überhaupt nicht diesem krassen Bild, schicken aber trotzdem ihre Kinder mit einem Slogan auf dem T-Shirt auf die Straße, der die Misere der Kultur auf den Punkt bringt: „Ich will ins Schwimmbad, nicht in die Oper“.
Die neue Präsidentin des deutschen Bühnenvereins, Dr. Barbara Kisseler spricht darüber in ihrem so nüchternen wie alarmierenden Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Juni. Die Tatsache, dass wenn die Kultur verdorrt, auch die Attraktivität des Standortes Deutschland schwindet, die Sitten verrohen, der Umgangston verlottert und jene Kreativität versiegt, auf der der Wohlstand dieses Landes basiert, scheint den Kulturtrollen egal zu sein. Die Obertrolle leugnen ihn, der Rest sieht ihn vermutlich nicht.
Natürlich sind die Kulturtrolle nicht selbst schuld an dieser fatalen Blindheit für alles, was hinter ihrem Tellerrand existiert. Denn das Trollsein ist nicht nur eine Folge jahrelanger Kulturignoranz oder gar offener Kulturfeindschaft vieler Vertreter, selbst der Eliten, sie ist auch eine Folge der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich. Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde, in dem die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden und das Soziale immer mehr gegen das Kulturelle ausgespielt wird. Und man muss kein Kulturtroll sein, um auf die Frage: Wollt Ihr ein Theater oder ein Schwimmbad? nicht sofort eine intelligente Antwort parat zu haben.
Die gebeutelten Kommunen und Länder, in deren Hoheit die Finanzierung sowohl von Schwimmbädern als auch Theatern fällt, stehen angesichts der vielen drängenden sozialen Probleme und leerer Kassen bekanntermaßen mit dem Rücken zur Wand und müssen häufig tatsächlich genau diese Wahl treffen. Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Folgen sind bekanntermaßen Theaterschließungen und sehr viele gravierende Kürzungen der Förderungsbudgets sowohl im Stadt-Theater-Bereich als auch in der freien Szene, die den Betrieb vieler Theater immer weiter strangulieren. Viele Theater sind nicht mehr in der Lage, mit der Förderung, die ihnen noch zugestanden wird, den Theaterbetrieb aufrechtzuerhalten und deren Leiter werden nun ihrerseits vor die Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt. Einige wählen da die Pest und versuchen durch arbeitsrechtliche Tricksereien die Quadratur des Kreises, um ihr Theater nicht auch noch sterben zu lassen.
So z.B. das Kindermusiktheater „Atze“ in Berlin Wedding. Dieses sehr erfolgreiche, interessante und von Kindern geliebte Theater kam bisher nur über die Runden, weil es bislang damit durchkam, die Schauspieler wie Selbständige zu behandeln, wodurch das Theater die Sozialversicherungsbeiträge gespart hat. Nun gibt ein Urteil des bayerischen Verwaltungsgericht dem Theater Anlass zur Sorge, dass dieser Spartrick nicht legal ist und nicht länger angewandt werden kann. Diesem Risiko wollen und können sich die Verantwortlichen des Theaters nicht aussetzen, was für das "Atze" wohl das Ende und die Schauspieler das Raus bedeuten wird, falls der Senat nicht doch noch die Basisförderung von 690.000 € im Jahr erhöht (siehe Berliner Zeitung vom 10.06.2015).
Mit anderen Worten: Jahrelang wurde ein Theater als förderungswürdig anerkannt, aber mit einer so niedrigen Summe gefördert, dass es nur mit illegalen Praktiken existieren konnte. Der schwarze Peter wird also von der Politik weiter gereicht, landet bei den von Natur aus zur Selbstausbeutung neigenden Künstlern, die ihn arglos annehmen – Hauptsache, sie können spielen – und damit dann auf die Nase fallen.
Und die verantwortlichen Politiker waschen ihre Hände in Unschuld. Hauptsache, sie müssen die Wahl zwischen Pest und Cholera nicht selbst treffen. Unter ihren Wählern gibt es schließlich auch zahlreiche Kulturtrolle. Und die regen sich zwar auch ganz gern über die Milliarden auf, die in die Rettung „systemerhaltender“ Banken fließen, ungleich mehr aber, weil greifbarer, wenn weitaus geringere Beträge die Erhaltung der einzigartigen Kulturlandschaft dieses Landes sichern sollen.
Dieselbe Mentalität hat die öffentlich-rechtlichen Sender bei der letzten Anmeldung ihres Finanzbedarfs bei der „Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs“ (KEF) bewogen, ihren Bedarf zu niedrig anzumelden. Denn die sogenannte „Beitragsstabilität“ ist derzeit die heilige Kuh, der keinesfalls ein Haar gekrümmt werden darf, weil der Sturm der gesammelten Kulturtroll-Entrüstung über jene hereinzubrechen droht, die es wagen würden, diesen „Zwangsbeitrag“ auch nur um einen Cent zu erhöhen.
Bekanntermaßen ist aber das Gegenteil eingetreten. Die Beiträge wurden um 48 Cent gesenkt, dieser Schritt von den Medien als Revolution gefeiert, geradezu als Beginn der Heilung eines kranken Systems, und trotzdem sind den Sendern aufgrund der Beitragsumstellung höhere Beträge in Milliardenhöhe zugeflossen.
Die dürfen nun aber nicht verwendet werden. Damit die Beiträge vielleicht um noch ein paar Cent mehr gesenkt werden können. Und sicherheitshalber, weil man ja nie weiß, was die Zukunft bringt. Hauptsache, der Beitrag bleibt stabil! Die Unterfinanzierug der fiktionalen Programme, auf die wir seit Jahren hinweisen, die ungelöste Frage der Folgevergütung und der unbegrenzten Mediatheken-Nutzung wird weiterhin ausgeblendet, weil die Angst vor der Wut der Kulturtrolle offenbar den nüchtern kalkulierenden Verstand vernebelt.
Denn aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben. Probleme lösen sich nicht, wenn man sie ignoriert. Zum Glück gibt es das Urheberrecht und die §§ 32 und 32a, die eine angemessene Vergütung verlangen. Es gibt Verbände und Gewerkschaften, die diese Hebel nach §36 ansetzen und es gibt inzwischen einige Erfolge, weil Rechtssicherheit eben ein wertvolles Gut ist, das auch die Verwerter des geistigen Eigentums schätzen.
„Wenn der deutsche Film nicht anfängt zu kämpfen, wird er aufhören zu sein“ hat Günter Rohrbach, der Preisträger des Ehrenpreises Inspiration 2014 beim Deutschen Schauspielerpreis, in seiner Dankesrede gesagt. Der Kampf wurde aufgenommen, wir kämpfen ihn zusammen mit anderen Verbänden und Gewerkschaften, aber in einem Klima der Wertschätzung der eigenen Kultur hätten wir damit deutlich mehr Rückenwind als in dem gegenwärtigen der Angst vor den Kulturtrollen.
Wer sich aber mit alten Geschichten auskennt, weiß, dass Trolle von der Angst der Menschen leben. Nur diese Angst macht sie mächtig. In Wirklichkeit sind es reichlich tumbe, etwas armselige und einfach gestrickte Gesellen, die ziemlich ratlos reagieren, wenn man sie mit einfachen Fragen konfrontiert wie: Was wollt Ihr eigentlich? Wie soll die Welt aussehen, die Ihr Euch vorstellt? Und was macht Dein Kind nach dem Schwimmbadbesuch?
Stellen wir also diese Fragen, lassen die Kulturtrolle über halbwegs sinnvolle Antworten grübeln und stärken derweil unseren Volksvertretern den Rücken, die nach intelligenten Lösungen mit begrenzten Mitteln suchen.
Lieber Regierender Bürgermeister (und damit auch Kultursenator) Michael Müller und lieber Kulturstaatsekretär Tim Renner, Berlin ist eine sehr große Stadt. Neben dem Grips-Theater (Förderung 2,8 Millionen) und dem Theater an der Park-Aue (Förderung 5,5 Milionen) gibt es auf jeden Fall Bedarf für ein drittes Kindertheater auf diesem Niveau! Bitte lassen Sie dieses engagierte Theater nicht am ausgestreckten Arm verhungern! Stocken Sie das Budget, das mit 690.000€ bei hoher Auslastung des Hauses ungerechtfertigt viel niedriger ist als jenes der anderen (ebenfalls großartigen und dringend benötigten) großen Kindertheater, wenigstens um den Betrag auf, der nötig ist, um die Schauspieler legal anzustellen. Arbeitsschutzgesetze sind schließlich dafür da, die Arbeiter zu schützen, nicht, ihre Arbeitsstellen abzuschaffen.
Hans-Werner Meyer, aufgewachsen im Norden von Hamburg, gründete in seiner Jugend eine A-Capella-Gruppe, bevor er zur Schauspielerei kam. Er verbrachte die ersten Jahre nach der Schauspielschule am Bayerischen Staatsschauspiel und der Schaubühne Berlin und arbeitet seitdem in wechselnden Engagements bei Film, Fernsehen und im Theater. Im Jahr 2006 gründete er zusammen mit Michael Brandner und 5 weiteren Kolleg*innen den BFFS. Die A-Capella-Gruppe gibt es noch.