Netflix wollte einen Nothilfefonds auflegen

BFFS Geschäftsstelle
1. Dezember 2020

Hans-Georg Rodek von der WELT hat mit Vorstandsmitglied Hans-Werner Meyer und Jacqueline Macaulay ein Interview zum Thema Corona-Hilfen geführt. Nachfolgend teilen wir das Interview.

Jacqueline Macaulay und Hans-Werner Meyer sind beide Schauspieler. Und doch trifft Corona sie ganz unterschiedlich. Das Ehepaar im Gespräch über Probenpauschalen, Soloselbstständige und arbeitsrechtliche Absurditäten.

Hans-Werner Meyer und Jacqueline Macaulay sind Schauspieler. Und verheiratet. Die Corona-Krise nehmen sie aber ganz unterschiedlich wahr, denn er spielt vor allem in Serien ("Letzte Spur Berlin") und sie vor allem am Theater. Ein Gespräch über Ungleichbehandlung in der Pandemie, ausgeschlagene Hilfsangebote von Netflix - und warum das Konzert aus dem eigenen Wohnzimmer im Netz inzwischen verpönt ist.

WELT: Sie sind auch Vorstandsmitglied im BFFS, der Gewerkschaft der Schauspieler. Erklären Sie uns, warum manche Schauspieler Corona-Unterstützung bekommen und andere nicht.

Hans-Werner Meyer: Wenn wir Filme drehen und wenn wir als Gast am Theater spielen, sind wir auf Projektbasis befristet Beschäftigte. Wir haben Arbeitsverträge. Die Lohnsteuer, der Arbeitnehmeranteil der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung, Soli, etc. werden von der Gage abgezogen, aber eben bloß für einen gewissen Zeitraum, manchmal nur für einzelne Drehtage oder einzelne Vorstellungen im Monat.

WELT: Und wenn jemand fest in einem Ensemble angestellt ist?

Meyer: Dann ist er eben auf einen längeren Zeitraum befristet beschäftigt, nämlich in der Regel ein Jahr, maximal zwei, und wird monatlich bezahlt mit den oben genannten Abzügen. Der Vertrag verlängert sich automatisch um ein Jahr, es sei denn, es wird eine sogenannte "Nichtverlängerung", also faktisch eine Kündigung ausgesprochen.

WELT: Wer sind aber nun die Soloselbstständigen im Künstlerbereich?

Meyer: Freischaffende Musiker, Bühnenbildner, Regisseure, bildende Künstler sind Soloselbstständige. Als Schauspieler bin ich es nur dann, wenn ich z.B. eine Lesung oder einen Liederabend veranstalte oder ein Buch schreibe oder als Dozent arbeite. Dann liefere ich ein fertiges Werk ab, stelle eine Rechnung und werde dafür bezahlt. Einkommens-  und  Mehrwertsteuer muss ich dann selber abführen. Für diese Tätigkeiten fließen keine Beiträge in die Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung, und es werden auch keine Anwartschaften für die Arbeitslosenversicherung gesammelt.

WELT: Was ist nun die Lage im zweiten Lockdown?

Meyer: Es ist eine unbürokratische Hilfe für Soloselbstständige angekündigt worden. Diese Regelung muss auch für auf Projektdauer beschäftigte Kulturschaffende gelten, um uns zu erreichen.

WELT: Sind Sie im vergangenen halben Jahr auf dem Trockenen gesessen?

Meyer: Ich persönlich nicht, denn ich gehöre zu den wenigen Glücklichen, die Arbeitslosengeld bekommen, weil ich durch Serien genug Anwartschaftszeit gesammelt habe. Die Produktionen, die während der ersten Lockdown-Zeit hätten gedreht werden sollen, wurden hinterher nachgeholt, und für die ausgefallenen Drehtage habe ich Kurzarbeitergeld bekommen.

WELT: Wie war es bei Ihnen, Frau Macaulay?

Jacqueline Macaulay: Ich bin vor allem Theaterschauspielerin, daher verhält es sich bei mir anders. Vier Tage, bevor am 16. März der erste Lockdown begann, habe ich am Staatstheater Karlsruhe zu arbeiten begonnen, mit einem Gastvertrag bis zum Schluss der Spielzeit, über eine Premiere und rund zehn Vorstellungen. Ab 16. März wurde alles unterbrochen und die  Premiere auf Oktober verschoben. Das Theater bezahlte mir die erste Hälfte der Probenpauschale aus, den zweiten Teil bekam ich, als die Proben wieder losgingen. Ein anderes Projekt, eine Koproduktion zwischen dem Stadttheater Trier und dem Théâtre National de Luxembourg, wurde abgesagt. Stattdessen probten wir ein Stück mit kleiner Besetzung, weil das in Luxemburg erlaubt war. Die Premiere fand Ende Oktober statt, und wir hatten bis jetzt drei Vorstellungen, weil Luxemburg bis dato keinen Lockdown hat. Dann hätte ich im Sommer noch bei "Cabaret" im Tipi am Kanzleramt mitspielen sollen. Das wurde ersatzlos gestrichen und aufs nächste Jahr verschoben - und nicht bezahlt, weil ich da als Soloselbständige engagiert bin. Insgesamt ist mir in diesem halben Jahr viel weggebrochen.

Meyer: Eigentlich müssten Theater die nicht stattfindenden Vorstellungen bezahlen, es sei denn, es gibt eine Vereinbarung über Kurzarbeit, denn schließlich ist das Theater der Arbeitgeber und trägt das Risiko, nicht der Arbeitnehmer. Einige tun das auch und zahlen die gesamte Gage, andere nur einen Teil und wieder andere berufen sich auf "höhere Gewalt" und zahlen gar nichts. Damit behandeln sie die Gäste wie Soloselbstständige, was diese aber in der Regel nicht sind. Die Ensemblemitglieder dagegen werden weiter bezahlt oder erhalten Kurzarbeitergeld.

Macaulay: Die meisten neuen Verträge enthalten jetzt eine Corona-Klausel, danach haben Gäste keinen Anspruch auf Bezahlung. Ich finde das sehr fragwürdig. Ich habe in meinem Karlsruher Vertrag auch eine Corona-Klausel, auf Nachfragen meinerseits aber bisher keine Antwort bekommen. Andere Theater kommen von sich aus auf ihre Gäste zu und zahlen trotz Corona-Klausel.

Meyer: Diese Regelung halten Juristen arbeitsrechtlich für nicht haltbar und damit unwirksam. Nur müsste man dagegen klagen. Welcher Schauspieler tut das schon? Schauspieler wollen ja weiterhin engagiert werden. Darum hat der BFFS diese Aufgabe übernommen und vielen Betroffenen helfen können. Dazu waren bislang nicht mal Gerichtsverfahren nötig.

Macaulay: Theoretisch gibt es für uns auf Projektbasis Beschäftigte andere Werkzeuge als die Hilfe für Soloselbstständige: Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld. In der Praxis aber hat kaum einer die nötige Anwartschaft für Arbeitslosengeld, und viele Theater weigern sich, Kurzarbeit zu beantragen, bleibt also nur die Grundsicherung. Die wird allerdings sehr bürokratisch ausgelegt. Viele bleiben auf der Strecke.

WELT: Haben Sie in Ihrer näheren Umgebung Künstler, die ihren Beruf aufgeben wollen?

Macaulay: Ja, einige, von Zweien weiß ich es sicher. Sie halten den Druck nicht aus. Meist sind es alleinerziehende Frauen. Die unterrichten dann mehr oder beginnen ein Studium in Richtung Psychologie oder ähnliches, denn auf der Bühne geht es ja auch darum, sich in Figuren einzufühlen.

Meyer: Man sagt ja, dass von zehn Absolventen einer Schauspielschule nur zwei oder drei langfristig im Beruf bleiben. Das war schon immer so, und das wird sich nun verstärken.

WELT: Was verdienen Schauspieler wirklich?

Meyer: Wir haben dazu eine Studie in Auftrag gegeben. Danach verdienen vier Prozent der Schauspieler mehr als 100.000 Euro im Jahr, am anderen Ende aber 70 Prozent unter 30.000. Jetzt haben wir sechs Monate mit faktischem Arbeitsverbot hinter uns, ein halbes Einkommensjahr fehlt also. Stellen Sie sich bei einem Einkommen von 20.000 Euro vor, was das  fehlende Halbjahr de facto bedeutet. Es geht schlicht ums nackte Überleben. Verhungern wird keiner, aber viele werden aus dem Beruf gedrängt werden.

WELT: Es gibt Ankündigungen, Kulturetats zu verkleinern. Das ETA Hoffmann Theater in Bamberg hat die Kürzung schon. Alles wird schrumpfen. Heißt die Alternative also: Eigene Projekte auf die Beine stellen - oder an die Supermarktkasse?

Macaulay: Eigene Projekte muss man ja auch erst mal finanzieren. Aber Kreativität ist unser Metier. Das kleine Stück, das wir in Luxemburg statt des geplanten auf die Beine gestellt haben, war z.B. eine Adaption von Thomas Manns "Zauberberg", aktueller denn je, Lungenkrankheit, Weltabgeschiedenheit. Das musste überhaupt nicht Corona-tauglich gemacht werden. In den Zuschauerraum durften nur 50 Leute. Ich hatte das Gefühl, da sitzen 5000, so stark war die Reaktion, und beim Applaus saßen da Zuschauer mit Tränen in den Augen. Kultur ist das, was die Menschen in dieser schweren Situation brauchen, sich unter perfekten Hygienebedingungen für zwei Stunden woandershin zu katapultieren. Wenn man das nicht kann, verroht das Herz, und es kommen keine guten Gedanken. Die Menschen werden sauer, werden böse. Hans' Bruder - der Kabarettist Chin Meyer - hat uns vor Kurzem an die alten Griechen erinnert. Bei denen war Kunst Pflicht. Wer nicht ins Theater gegangen ist, wurde vom Militär von zu Hause abgeholt. Theater ist zuallererst Austausch, ein pulsierendes Herz, und wenn das so weitergeht, bleibt nur ein vertrocknetes. Um das Herz am Schlagen zu erhalten, braucht es auch Zuwendung von der Politik.

WELT: Aber "lohnt" es sich, vor 50 Leuten zu spielen?

Macaulay: Ich spiele auch vor zehn.

WELT:  Im ersten Lockdown haben viele Künstler im Wohnzimmer Geige gespielt oder Brecht rezitiert und das ins Netz gestellt. Kommt das wieder?

Meyer: Das geht in die falsche Richtung, weil es diese Umsonstmentalität verstärkt. Die Frage, wovon die leben sollen, die das machen, wird nicht beantwortet. Da wird ein Freiheitsbegriff unterstützt, der nur den großen Techunternehmen nützt, die davon leben, dass sie Gratisinhalte anbieten, dafür Werbegelder kassieren, die Erschaffer dieser Inhalte aber nicht an dem Verdienst beteiligen. Die meisten tun das beim zweiten Lockdown auch nicht mehr, weil es inzwischen verpönt ist und überhaupt nichts bringt.

Macaulay: Ich konnte es beim ersten Lockdown verstehen. Der war ja wie eine Vollbremsung, eine Kreativität, die im Gang war, wurde unterbrochen. Aber man dachte, nach vier Wochen ist das vorbei.

WELT: Was ist jetzt Ihre Haltung?

Macaulay: Eher ein "Ohne uns wird es still". Wenn ich bestimmen könnte, würde ich Radio und Fernsehen Stille verordnen. Gut, Nachrichten würde es noch geben, aber alles andere wäre nicht verfügbar: nur Testbild und Stille. Das ist natürlich nicht machbar, aber man würde besser begreifen, dass die Künstler jetzt keine Kraft mehr haben, buchstäblich, keine Energie und Fantasie. Ich habe seit Februar nur fünf Vorstellungen gespielt, viele andere keine einzige.

WELT: Die Politik erkennt Ihre Hygienekonzepte ja durchaus an. Die Begründung für den zweiten Lockdown ist, dass "unnötige" Bewegungen von Menschen vermieden werden sollen. Ist shoppen nötig? Ist Kultur notwendig?

Meyer: Ich persönlich finde die Theaterschließungen falsch, akzeptiere sie aber. Desto wichtiger wäre es aber, dass die Hilfen nun endlich ankommen. Zum Beispiel funktioniert der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung nicht, weil in den Jobcentern Leute sitzen, die das Konzept nicht verstehen und Vorurteile gegenüber Kulturschaffenden haben. Sie machen ihnen das Leben schwer, weil sie sie für privilegiert halten. Das ist eine Unterstellung meinerseits, aber es ist eine Erfahrung, die viele Kollegen machen.

WELT: Auch die vereinfachte Grundsicherung soll nur gewährt werden, wenn kein "erhebliches" Vermögen existiert.

Meyer: Und das wird von den Jobcentern mit 60.000 Euro aufwärts beziffert. Aber wir müssen ja sparen, weil Schauspieler in der Regel keine anständige Rente haben. Kennen Sie den Fall Eleonore Weisgerber? Sie hat ihr Leben lang kontinuierlich gearbeitet, mehr als 50 Jahre lang, über 100 Rollen in Film und Fernsehen - und bekam anfangs eine Rente von etwas über 900 Euro, wegen der unvermeidlichen Lücken zwischen Engagements. Geld für die Alterssicherung sollte also nicht eingerechnet werden, aber wie soll das ein Mitarbeiter im Jobcenter im Detail beurteilen? So versanden die Versprechen der Politik an der Kleinteiligkeit der Bürokratie.

WELT: Das Wirtschaftsministerium hat eine Statistik über die Kreativbranche veröffentlicht, also über Autoren, Filmemacher, Musiker, Künstler, Architekten, Designer, Entwickler von Computerspielen …

Meyer: … wonach die Kreativbranche inzwischen die drittstärkste Wirtschaftskraft in Deutschland ist. Mit großem Vorsprung vor der Bundesliga.

WELT: Hat die Kultur nicht genug Lobbyarbeit für sich bei der Politik betrieben?

Meyer: Wir vom Bundesverband Schauspiel haben die letzten 14 Jahre nichts anderes getan, als Lobbyarbeit zu betreiben. Ich kenne diese Klagen, auch von Schauspielern, und dazu kann ich nichts anderes sagen als: Dann tretet doch endlich in den BFFS ein und unterstützt uns.

WELT: Wie war noch mal die Geschichte mit der Pandemiehilfe von Netflix?

Meyer: Netflix wollte helfen. Wir hatten kurz vor dem ersten Lockdown eine vorbildhafte Vereinbarung über Vergütungsregeln mit ihnen geschlossen. Nun wollten sie einen Nothilfefonds für Filmschaffende auflegen. Aber diese Hilfen wären von der Grundsicherung abgezogen worden. Deshalb ist dieser Fonds leider aus verständlichen Gründen nicht zustande gekommen.

WELT: Wer wäre Netflix-hilfsberechtigt gewesen?

Macaulay: Gedacht war die Hilfe für bedürftige Filmschaffende, gestaffelt nach dem Grad der Bedürftigkeit. Solange der Geldvorrat reicht. Mitwirkung in einer Netflix-Produktion wäre keine Voraussetzung gewesen.

WELT: So selbstlos kenne ich Netflix gar nicht.

Meyer: Sie haben sich ein bisschen vom Saulus zum Paulus gewandelt. Wir machen gerade sehr gute Erfahrungen mit Netflix. Sie sind an einem nachhaltig guten Verhältnis zur hiesigen Kreativwirtschaft interessiert und haben sich z.B. auch finanziell an der von uns ins Leben gerufenen Vertrauensstelle Themis beteiligt.

WELT: Wie viel Euro wären in dem Fonds drin gewesen?

Meyer: Auf jeden Fall ein siebenstelliger Betrag.

WELT: Es gibt Gerüchte, dass Theater gezwungen sein werden, ihr Ensemble zu verkleinern oder Bühnen zusammenzulegen. Solch eine Verkleinerung spart zwar Gehalt, macht es aber auch unmöglich, Stücke mit vielen Personen zu inszenieren. Schrumpft damit das Repertoire?

Macaulay: Man könnte die Lücken natürlich mit Gästen füllen.

Meyer: Wenn ein Ensemble aus finanziellen Gründen verkleinert wird, ist auch das Geld für Gäste nicht da.

Macaulay: Man wird die Gagen für Gäste drücken.

Meyer: Zweipersonenstücke sind mittlerweile extrem beliebt. Oder Vier-Personen-Stücke, diese well-made plays à la Yasmina Reza, immer zwei Männer, zwei Frauen, funktioniert gut und ist leicht zu inszenieren. Der Markt ist überschwemmt damit.

WELT: Nordrhein-Westfalens Kulturministerin Pfeiffer-Pönsgen hat die Kulturschaffenden aufgefordert, nicht ständig Extrawürste zu verlangen.

Meyer: Das ist der kulturfeindliche Reflex, der wieder aufbricht. Wegen dem sich viele Kulturschaffende permanent in der Defensive fühlen, in einem Rechtfertigungsdruck. "Macht doch lieber was Anständiges", haben die Eltern immer gesagt. Pfeiffer-Pönsgen tut so, als sei die Kultur für die Kulturschaffenden da. Tatsächlich ist sie für die Menschen da, und die Menschen leiden darunter, dass sie momentan keine haben. Ich wäre dafür, Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen.