20220705 Artikel Tarifabschluss Nv Bühne

Großer Ruck in neue Ära

Heinrich Schafmeister
5. Juli 2022

Erfolgreicher Tarifabschluss beim NV Bühne

Die guten Nachrichten zuerst …

  • Der Kreis schließt sich: Unser Bundesverband Schauspiel (BFFS) verhandelt und unterschreibt nicht nur in der Film- / Fernseh- und Synchronbranche kollektive Vergütungs- bzw. Tarifregeln, sondern jetzt auch im Theaterbereich. Damit ist der BFFS nach seiner Gründung vor 16 Jahren in allen Feldern, in denen wir Schauspieler*innen zum Einsatz kommen und daher der BFFS dort hingehört, gewerkschaftlich angekommen.
  • Die große Sensation: Die Gagen-Untergrenze der Solo-Künstler*innen, u. a. der Schauspieler*innen im Normalvertrag Bühne (oder kurz „NV Bühne“) wird in einem Jahr so viel wie bzw. sogar mehr ansteigen als in den letzten 30 Jahren, seit Einführung der Mindestgage im Jahre 1991 (siehe Grafik unten).

Diesen Befreiungsschlag verdanken wir neben dem BFFS, der nun neu zur Verhandlungsgemeinschaft gehört, den beiden anderen Künstler*innen-Gewerkschaften, der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), der Vereinigung Deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO) – aber eben auch der Arbeitgeber*innenseite, dem Deutschen Bühnenverein.

Denn glücklich über die bisherige Entwicklung der Mindestgage war keine der beiden Seiten. Zumal der gesetzliche Mindestlohn, je nach dem, mit welcher Anzahl von Wochenstunden gerechnet wird, die Mindestgage des NV Bühne inzwischen eingeholt oder überholt hat.

Aber von vorne – von ganz vorne …

Der NV Bühne ist der zentrale Tarifvertrag für alle Bühnenangehörige in Deutschland – auch für uns Schauspieler*innen. An den „öffentlichen“ Theatern regelt er verbindlich die Arbeitsverhältnisse und die Untergrenze der Monatsgage unserer ca. 2.200 auf Spielzeit verpflichteten Schauspielkolleg*innen in den Ensembles. Die Untergrenzen der Vorstellungs- und Probentag-Gagen der gastierenden Schauspieler*innen stehen in einem festen prozentualen Verhältnis zu dieser monatlichen Mindestgage. Darüber hinaus beeinflusst der NV Bühne indirekt auch unsere Einkommensverhältnisse als Gäste an den En-Suite-Privattheatern und sogar in der „freien“ Theaterszene. Das Gastieren an öffentlichen oder privaten Theatern und das Engagement in „freien“ Theatergruppen bildet die „Spielwiese“ der restlichen ca. 13.000 Schauspieler*innen, wenn sie nicht gerade drehen oder synchronisieren.

Der NV Bühne und seine Vorläufer sind sehr alte Tarifverträge. Bereits im Jahre 1919 schuf die GDBA mit dem Deutschen Bühnenverein den ersten Tarifvertrag im Bühnenbereich. 1924 trat der NV Solo in Kraft, der im Jahre 2003 zusammen mit anderen Bühnentarifverträgen für die Tanz- und Chor-Ensembles sowie für die Bühnentechnik zum NV Bühne zusammengefasst wurde. Seit dieser Zeit bilden die GDBA und die Vereinigung Deutscher Bühnenangehöriger (VdO) eine Verhandlungsgemeinschaft.

Über Generationen hinweg regelte der NV Solo eine Anfängergage für die ersten beiden Spielzeiten der Berufsanfänger*innen. Nach dem Anfänger- kam der Fachvertrag, der natürlich besser honoriert wurde. Mit jeder weiteren Spielzeit wuchs der Abstand zu den Anfängerjahren und damit die Verhandlungsmacht jedes Einzelnen von uns, auf immer höhere Gagen zu pochen.

Im Jahre 1991 wurde im NV Solo die Anfängergage durch eine Mindestgage abgelöst. Diese Mindestgage beschränkt sich seitdem keineswegs nur auf die Anfangsjahre, sondern ist für alle Altersstufen aller Solo-Künstler*innen, darunter uns Schauspieler*innen entscheidend. Leider hat das unsere individuellen Verhandlungsmöglichkeiten, uns gagenmäßig nach oben zu arbeiten, eher geschwächt.

Zu unser aller Übel ist diese Mindestgage seit Einführung vor über 30 Jahren nur um 772,90 € angestiegen – von 1.227,10 € im Jahr 1991 bis 2.000 € in der aktuellen Spielzeit 2021/22. So ging über die Jahre die Schere zwischen unseren Vergütungen am Theater und der Bezahlung anderer Beschäftigter immer weiter auseinander – auch im Vergleich zu den Gagen unserer Kolleg*innen im Chor, Tanz oder im Orchester. Die Entlohnung des Schauspielberufs, der von der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit dem höchsten Anforderungsniveau 4 als „hoch komplex“ eingestuft wird, der den vierjährigen Besuch einer Hochschule voraussetzt, rangiert am Theater nicht selten unterhalb der Vergütung von Hilfs- und Anlerntätigkeiten mit dem niedrigsten Anforderungsniveau 1.

Kein Wunder, von allen „Baustellen“ des NV Bühne, die danach schreien von den Tarifparteien in Angriff genommen zu werden, stand die Mindestgage bei dieser Tarifauseinandersetzung ganz oben auf der Aufgabenliste. In der 4. Tarifrunde, am 21.06.2022 wurden bei dieser Aufgabe große Fortschritte erreicht:

Das Tarifergebnis in Stichworten …

  • Ab nächster Spielzeit 2022/23 erhöht sich die Mindestgage zunächst von 2.000 € auf 2.550 €
  • und ab Januar 2023 auf 2.715 €. Das ist bis dahin eine Steigerung von 35,75%.
  • Danach wird die Mindestgage dynamisiert, sie entwickelt sich also linear wie die übrigen Vergütungen an den Bühnen, die von den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes bestimmt werden.
  • Ab der Spielzeit 2023/24 wird die Mindestgage quasi gesplittet: Die (dynamisierten) 2.715 € werden zur „Einstiegsgage“, unter der die Solo-Künstler*innen in ihren ersten beiden Beschäftigungsjahren an NV-Bühne-Theatern nicht entlohnt werden dürfen.
  • Die Gagen-Untergrenze für die anderen Solo-Künstler*innen mit mehr als zwei Beschäftigungsjahren liegt dann um (ebenfalls dynamisierte) 200 € über der Einstiegsgage, also nicht unter 2.915 € – ein Steigerung gegenüber heute von 45,75%.
  • Für gastierende Solo-Künstler*innen liegt die Vorstellungs-Gagen-Untergrenze weiterhin bei 10% der Mindestgage bzw. Einstiegsgage. Die Gagen-Untergrenze für Probentage erhöht sich allerdings von 45% der Vorstellungs-Gagen-Untergrenze auf 50%. Die Minderung für halbe Probentage wird gestrichen.

Das künftige Tarifgeschehen …

Die Tarifparteien sind sich außerdem einig, demnächst über eine Regelung zur Teilzeitarbeit verhandeln zu wollen und in dem Zusammenhang auch über weitere Erhöhung der Gagen-Untergrenzen für die Spielzeiten 2023/24 und 2024/25. Der NV Bühne kennt bisher für Solo-Künstler*innen keine Arbeitszeitregelungen. Insofern müssen noch dicke Bretter gebohrt werden.

Wie die anderen Bühnenangehörigen haben wir Schauspieler*innen, vor allem die jüngeren von uns, natürlich noch viel größere Erwartungen an eine Reform des NV Bühne. Auch der BFFS teilt diese Erwartungen und hat den NV Bühne in Vergangenheit zurecht in vielen Punkten kritisiert. Er hat dabei aber immer klargestellt, als Tarifpartner Verantwortung übernehmen und den NV Bühne Schritt für Schritt verbessern zu wollen. Mit der Beteiligung des BFFS an diesem neuen Tarifabschluss ist der erste große Schritt getan.

Die Voraussetzungen für weitere Schritte scheinen günstig. Der Deutsche Bühnenverein hat mit Claudia Schmitz eine neue geschäftsführende Direktorin, die GDBA mit Lisa Jopt eine neue Präsidentin, beide starten mit viel Schwung. Die neue Verhandlungsgemeinschaft GDBA, VdO und BFFS arbeitet vertrauensvoll zusammen. Wir Schauspieler*innen sind im Vergleich zu früher gewerkschaftlich viel zahlreicher organisiert – in der GDBA und im BFFS sowieso. Dadurch sind unsere Interessen am Verhandlungstisch viel präsenter geworden. Nicht zuletzt deswegen ist dieser Tarifabschluss ein großer Ruck in eine neue Ära.

20220705 Artikel Tarifabschluss Nv Bühne Gagengrafik
Entwicklung der Mindestgage im Vergleich zum Durchschnittsverdienst in Deutschland