20221004 Artikel Leitlinien Der Eu Kommission

EU erleichtert Tarifverträge zugunsten Solo-Selbstständiger

Heinrich Schafmeister
4. Oktober 2022

Großer Fortschritt, vor allem für die Mehrheit der Kulturschaffenden

Der letzte Donnerstag wird vielleicht als einer der wichtigsten Tage für europäische Künstler*innen in die Geschichte eingehen. An diesem Tag, dem 29. September 2022, verabschiedete die Europäische Kommission Leitlinien, die den Gewerkschaften den rechtlichen Weg eröffnen sollen, zu Gunsten zumindest eines Teils der Solo-Selbstständigen Tarifverhandlungen führen und Tarifverträge abschließen zu dürfen. So könnten in Zukunft nicht nur der Bundesverband Schauspiel (BFFS) für die selbstständig tätigen Schauspieler*innen, sondern auch die Partner-Gewerkschaften für die selbstständig tätigen Künstlerkolleg*innen in unserem Umfeld erheblich bessere soziale und wirtschaftliche Verhältnisse schaffen.

Selbstständige konnten bisher nicht von Tarifverträgen profitieren

Selbstständige gelten nach europäischem (und damit auch deutschem) Kartellrecht als „Unternehmen“, denen untersagt ist, mit anderen Unternehmen Absprachen, insbesondere Preisabsprachen zu treffen. Tarifverträge wären solche Absprachen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Diese Absprachen verstoßen nicht gegen das Kartellrecht. Denn sie sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen auf der einen und Gewerkschaften, also Vertretungen von Arbeitnehmer*innen auf der anderen Seite. Unternehmen, also auch Selbstständige können dagegen keine Tarifverträge untereinander abschließen.

Allerdings dürfen Gewerkschaften nach deutschem Recht tarifliche Regelungen ausnahmsweise dann für Selbstständige vereinbaren, wenn sie zum eng begrenzten Kreis der sogenannten arbeitnehmerähnlichen Personen gehören. Das sind solche Selbstständige, die wie Arbeitnehmer*innen wirtschaftlich abhängig und sozial schutzbedürftig sind, überwiegend für ein Unternehmen arbeiten und dort den Großteil ihrer Einkünfte beziehen und ihre geschuldeten Leistungen persönlich erbringen und dabei im Wesentlichen ohne die Mitarbeit eigener Arbeitnehmer auskommen.

Diese im § 12a Tarifvertragsgesetz verankerten Merkmale treffen passgenau auf viele „Feste Freie“ zu, die überwiegend für einen bestimmten öffentlich-rechtlichen oder privaten Sender oder anderen Medienkonzern arbeiten.

Aber alle anderen selbstständig Erwerbstätige, darunter die Mehrheit der bildenden und Musik-Künstler*innen, aber eben auch unsere solo-selbstständigen Kolleg*innen, die zwischen verschiedenen Bühnen, verschiedenen Filmfirmen oder verschiedenen Synchronstudios hin und her switchen, durften bis dato von Tarifverträgen nicht umfasst und geschützt werden. Ja, schon das Aufstellen von Gagenempfehlungen für selbstständige Berufsgruppen war kartellrechtlich höchst problematisch – und zwar umso mehr, desto verbindlicher diese Empfehlungen wurden.

Was besagen die neuen Leitlinien der EU-Kommission?

Sie bescheinigen zunächst die Zulässigkeit von Tarifverträgen, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen oder Vereinigungen von ihnen vereinbart werden, um die Mindeststandards der Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmer*innen zu regeln – auch wenn diese als Scheinselbstständige behandelt werden. Solche Tarifverträge sind und waren schon immer mit dem europäischen Wettbewerbsrecht vereinbar, ja, geradezu von ihm erwünscht. Also insoweit nichts Neues.

Dann gehen die Leitlinien der EU-Kommission einen Schritt weiter und wenden sich den schutzbedürftigen Solo-Selbständigen zu, die in ihren Branchen mit übermächtigen Unternehmen konfrontiert sind. Die Leitlinien beschreiben drei Merkmale, die Gewerkschaften künftig ermöglichen sollen, für schutzbedürftige Solo-Selbstständige Tarifverträge auszuhandeln. Solche Tarifverträge werden vom Verbot des EU-Kartellrechts befreit. Die Merkmale betreffen …

1. wirtschaftlich abhängige, arbeitnehmerähnliche Solo-Selbstständige wie oben beschrieben,

2. Solo-Selbstständige, die dieselben oder ähnliche Aufgaben Seite an Seite mit Arbeitnehmer*innen für dieselben Vertragspartner*innen erledigen und

3. Solo-Selbstständige, deren Dienstleistung von digitalen Arbeitsplattformen maßgeblich organisiert werden.

Über diesen Kreis hinaus kümmert sich die EU-Kommission noch um weitere Solo-Selbstständige, die sich wie die vorher aufgelisteten Fälle in einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber ihren Gegenparteien befinden und auch den Schutz von Tarifverträgen benötigen. Tarifverträge für diese Gruppe von Selbstständigen sollen in Zukunft zwar nicht von den Beschränkungen des europäischen Kartellrechts ausdrücklich ausgeklammert sein, aber die EU-Kommission erklärt, nicht gegen sie vorzugehen. Das betrifft …

1. Solo-Selbstständige, die mit Vertragspartnern zu tun haben, die eine gewisse Wirtschaftskraft haben, was zu vermuten ist, wenn ein oder mehrere von diesen Vertragspartnern eine ganze Branche vertreten bzw. wenn sie – einzeln oder zusammen – höhere Gesamtjahresumsätze oder Jahresbilanzsummen als zwei Millionen EUR haben.

2. Solo-Selbstständige, denen aufgrund nationaler oder unionsrechtlicher Vorschriften bestimmte Kollektivverträge bereits gestattet sind wie z. B. Urheber*innen und ausübenden Künstler*innen, für die Gemeinsame Vergütungsregeln aufgestellt werden können.

Was gehen uns die neuen Leitlinien an?

Als Schauspieler*innen sind wir in der Regel Arbeitnehmer*innen – keine Selbstständigen. Insofern kann und konnte uns das Wettbewerbsrecht sowieso nichts anhaben. Aufgrund unseres Status als Arbeitnehmer*innen und der sozialen Mächtigkeit, die unser BFFS inzwischen erlangt hat, kann er als Gewerkschaft agieren und hat für unsere Berufsgruppe inzwischen neun Tarifverträge durchgesetzt.

Wir Schauspieler*innen gelten zudem als ausübende Künstler*innen, in deren Namen unser BFFS mit Produzent*innen, Sendern, Verleihern und Streaming-Dienstanbietern gemäß des Urheberrechts und ungehindert vom Kartellrecht verbindliche Gemeinsame Vergütungsregeln aufstellen kann und dies bereits fünfmal gemacht hat.

Trotzdem, die neuen Leitlinien der EU-Kommission eröffnen eine Perspektive, für die wir uns interessieren sollten.

Zum einen arbeiten wir Schauspieler*innen in der Werbebranche und in der freien Theaterszene anders als in der Regel, ob zurecht oder nicht, oft als Selbstständige. In diesen Bereichen verbindliche Tarifregeln einzuführen, war bisher allein deswegen zum Scheitern verurteilt, weil uns in diesen Fällen der Selbstständigen-Satus im Wege stand. Ob die neuen EU-Leitlinien uns hier eine tarifliche Tür öffnen, muss von juristischen Experten noch genau untersucht werden. Aber eines lässt sich sagen: Mit den neuen europäischen Leitlinien kommt diese Tür in greifbare Nähe und wächst die Chance unseres BFFS, in nicht allzu ferner Zukunft auch für unsere selbstständig engagierten Schauspielkolleg*innen tarifverbindliche Gagenuntergrenzen zu fordern und durchsetzen zu können.

Zum anderen sollten wir auch das Schicksal unserer Kolleg*innen im Blick haben, die als Solo-Selbstständige mit uns Seite an Seite an gemeinsamen Projekten arbeiten. Bühnen-, Szenen-, Kostüm- und manche Maskenbildner*innen, Filmeditor*innen, Tongestalter*innen, selbst Regisseur*innen sind beim Aushandeln ihrer Arbeits- und Gagenbedingungen oft auf sich allein gestellt und damit den Theatern oder Produktionen hoffnungslos unterlegen. Nicht zuletzt die Corona-Krise hat bewiesen, auf welch schwachen wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Füßen unsere solo-selbstständigen Kolleg*innen stehen. Das ist nicht nur ungerecht, das färbt auch allzu oft auf uns ab.

Die aktuelle europäische Entwicklung könnte den Partner-Gewerkschaften des BFFS – das sind GDBA im Bühnen- und ver.di vor allem im Film-Fernseh- und Synchronbereich – entscheidend weiterhelfen, auch die Lage dieser Kolleg*innen besser zu schützen.

Durch verbindliche Tarifverträge.