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Premiere: Internationaler Streamingdienst zahlt Folgevergütungen an Synchronschaffende

Heinrich Schafmeister
20. Juni 2024

Netflix wird damit der „besondere(n) Situation“ der deutschen Synchronbranche gerecht

Die ersten Gemeinsamen Vergütungsregeln (GVR) zu verbindlichen Folgevergütungen für Synchronschaffende hierzulande stammen aus dem Jahr 2019. Sie gelten für die Verleiher Constantin Film und Studiocanal, beinhalten Zahlungen an Dialogbuchautor*innen, Synchronregisseur*innen und Synchronschauspieler*innen und beruhen auf einer Vereinbarung mit den Gewerkschaften Bundesverband Schauspiel (BFFS) und ver.di. Den beiden ist gemeinsam mit der Bundesvereinigung Filmton (bvft) bereits Mitte Dezember 2023 der Durchbruch zu einer weiteren Pioniertat gelungen:

Verbindliche Folgevergütungen werden die Synchronschaffenden inklusive des Synchron-Tongestaltungsgewerks nun auch von einem international agierenden Streamingdienst erhalten – noch dazu von dem wohl relevantesten von allen: Netflix.

Das „Positions-Modell“

Welche internationale Netflix-Serien oder -Spielfilme erfolgreich sind, ist ziemlich offensichtlich, auch ohne in die Geschäftsgeheimnisse des Streamingdienstes näher eingeweiht zu sein. An diesem Erfolg ist auch die deutschsprachige Synchronisation beteiligt. Natürlich, sonst würde sie nicht hergestellt. Aber in welchem Maße sie tatsächlich vom deutschsprachigen Publikum bei den jeweiligen Produktionen genutzt wird und damit zu ihrem Gesamterfolg beiträgt, ist kaum nachvollziehbar.

Also legten BFFS, ver.di und bvft Wert auf verlässliche (und lukrative) Gesamtbeträge zugunsten der Synchronschaffenden. Gesamtbeträge, bei denen niemand zweifeln muss, ob die Nutzung der deutschen Synchronisation korrekt bemessen wurde. So entstand ein „Positions-Modell“, nach dem Netflix nun den deutschen Synchronschaffenden Folgevergütungen zahlen wird.

Das Positions-Modell beinhaltet …

1. Feste Gesamtbeträge

Für jedes Jahr ab 2023 zunächst bis 2026 wird ein fester Gesamtbetrag von 475.000 € an die Gruppe der urheberrechtlich relevanten Synchronschaffenden der 15 erfolgreichsten internationalen Serien- sowie der 15 erfolgreichsten internationalen Spielfilm-Netflix-Auftragsproduktionen gezahlt – unabhängig von der tatsächlichen (und schwer nachprüfbaren) Nutzungsintensität der deutschsprachigen Synchronisation für diese Produktionen.

Die festen Gesamtbeträge für die Jahre vor 2023 sind …

  • 100.000 € im Jahr 2019,
  • 200.000 € im Jahr 2020
  • und jeweils 150.000 € in den Jahren 2021 und 2022.

Die Gesamtbeträge für diese vergangenen Jahre beschränken sich auf die mitwirkenden Synchronkreativen der jeweils 5 erfolgreichsten Produktionen der beiden Gattungen Serie und Spielfilm.

2. Festes Aufteilungsverhältnis zwischen Serien und Spielfilmen

Die jeweiligen festen Gesamtbeträge werden zu einem festen Verhältnis von 82,5% zu 17,5% zwischen den urheberrechtlich relevanten Synchronschaffenden der 15 erfolgreichsten internationalen Serien- einerseits und der 15 erfolgreichsten Spielfilm-Netflix-Auftragsproduktionen andererseits aufgeteilt – unabhängig vom tatsächlichen (und schwer nachprüfbaren) Verhältnis zwischen den Nutzungsintensitäten der deutschsprachigen Synchronisation für die beiden Gattungen.

3. Feste Prozentanteile je nach Erfolgsposition

Je erfolgreicher die Position ist, die eine Serien- bzw. Spielfilm-Produktion innerhalb der 15 erfolgreichsten Produktionen der gleichen Gattung einnimmt, desto höher ist der feste Prozentanteil, dem diese Produktion vom Anteil des Gesamtbetrags für diese Gattung zusteht – unabhängig von den tatsächlichen (und schwer nachprüfbaren) Verhältnissen zwischen den Nutzungsintensitäten der deutschsprachigen Synchronisation für die 15 erfolgreichsten Produktionen.

Vom Anteil für die jeweilige Gattung verfallen auf …

  • die 1. Position 21%,
  • die 2. Position 17%,
  • die 3. Position 13%,
  • die 4. Position 11,5%,
  • die 5. Position 7,5%,
  • die 6. bis 10. Position jeweils 3,5%
  • und die 11. bis 15. Position jeweils 2,5%.

Weil die Positionen 6 bis 15 für die Jahre vor 2023 ohne Belang sind, werden für diese Jahre die ersten 5 Positionen entsprechend hochgerechnet.

Das Verteilungsschema für die Netflix-GVR-Synchron

Das Verteilungsschema für die neue Netflix-GVR-Synchron hat in seinen Grundzügen die gleiche Systematik wie die Verteilungsschemata für die tarifliche Kinoerlösbeteiligung, die Netflix-GVR-Serien, die Netflix-GVR-Spielfilm und die GVR-Synchron für die Verleiher Constantin Film und Studiocanal. In all diesen Fällen wird zunächst ein Gesamtbetrag für alle urheberrechtlich relevanten Mitwirkenden nach bestimmten Regeln der „Binnenverteilung“ auf die verschiedenen Kreativgewerke aufgeteilt. Anschließend erfolgt die „gewerkinterne Verteilung“ an die jeweiligen (urheberrechtlich relevanten) Angehörigen eines Kreativgewerks unter Berücksichtigung der Menge der „Basiseinheiten“ (Einsatztage, Drehtage bzw. Takes) jeder einzelnen berechtigten Person und der unterschiedlichen berufseigenen „Sektionsqualifizierungen“ mit denen diese Basiseinheiten gewertet, d. h. multipliziert werden.

Wie funktioniert die Verteilung der Netflix-GVR-Synchron im Detail?

1. Die Binnenverteilung auf die vier Synchron-Gewerke

Bei den Netflix-GVR-Synchron stehen die Folgevergütungen neun Synchronberufen („Sektionen“) aus den vier Synchrongewerken Dialogbuch, Synchronregie, Synchron-Tongestaltung und Synchronschauspiel zu. Die Aufteilung ist …

  • 11,24% für das Dialogbuchgewerk,
  • 12,36% für das Synchronregiegewerk,
  • 5,48% für das Synchron-Tongestaltungsgewerk
  • und 70,92% für Synchronschauspielgewerk.

Dabei bleibt das Verhältnis der Anteile an den Folgevergütungen für die Gewerke Dialogbuch, Synchronregie und Synchronschauspiel unverändert das gleiche wie bei den GVR-Synchron mit den Verleihern Constantin Film und Studiocanal, nämlich 11,89% zu 13,08% zu 75,03%. Allerdings wird diesmal auch das Synchron-Tongestaltungsgewerk beteiligt, so dass die Anteile für die anderen drei Gewerke entsprechend geringer ausfallen.

2. Die gewerkinterne Verteilung

a) Das Dialogbuchgewerk besteht nur aus der Sektion der Dialogbuchautor*innen. Sollten an einem Dialogbuch für eine Synchronproduktion mehrere Dialogbuchautor*innen mitgewirkt haben, teilen sie sich ihren Gewerkanteil (von 11,24%) im Verhältnis der Menge der Takes, die sie jeweils geschrieben haben.

b) Das Synchronregiegewerk besteht nur aus der Sektion der Synchronregisseur*innen. Sollte an einer Synchronregie für eine Synchronproduktion mehrere Synchronregisseur*innen mitgewirkt haben, teilen sie sich ihren Gewerkanteil (von 12,36%) im Verhältnis der Menge der Einsatztage, an denen sie jeweils Synchronregie geführt haben.

c) Das Synchron-Tongestaltungs-Gewerk besteht aus den fünf Sektionen der Synchrontonmeister*innen, der Synchroncutter*innen im Studio, den Synchroncutter*innen im Schnitt, den Synchroncutter*innen International Tape / Music and Effects und den Mischtonmeister*innen. Sie alle teilen sich ihren Gewerkanteil (von 5,48%) im Verhältnis der Menge ihrer Einsatztage für eine Synchronproduktion, wobei aber die Einsatztage …

  • der Synchron-Tonmeister*innen zu 40%,
  • der Synchron-Cutter*innen im Studio zu 40%,
  • der Synchron-Cutter*innen im Schnitt zu 30%,
  • der Synchron-Cutter*innen International Tape / Music and Effects zu 75%
  • und der Mischtonmeister*innen zu 100%

… gewertet werden.

d) Das Synchronschauspielgewerk besteht aus den beiden Sektionen der Synchronschauspieler*innen, die Haupt-, Neben- oder Kleinrollen mit mehr als 6 Takes synchronisieren, und den Synchronschauspieler*innen, die Kleinstrollen mit 6 Takes oder weniger synchronisieren oder im Ensemble mitwirken. Sie alle teilen sich ihren Gewerkanteil im Verhältnis ihrer Takes für eine Synchronproduktion, wobei aber …

  • die Takes für Haupt-, Neben- und Kleinrollen zu 100% gewertet werden
  • und den Synchronschauspieler*innen, die Kleinstrollen synchronisieren oder im Ensemble mitwirken, unabhängig von der tatsächlichen Anzahl ihrer Takes stets 6 Takes unterstellt werden, die zu 65% gewertet werden.

3. Auch die Mitwirkenden der Synchron-Tongestaltung erhalten Folgevergütungen

Die Verständigung verschiedener Gewerke auf eine gerechte Verteilung von urheberrechtlich begründeten Erfolgsvergütungen war schon immer ein schwieriger Prozess, der meistens scheiterte. Alle Gewerke pochen auf ihre besondere Bedeutung und argumentieren je nach konkurrierendem Gewerk auf unterschiedlichen Ebenen. Kompromisslösungen gab es nur zweimal: im Jahre 2013 bei der „Binnenverteilungsrunde“ aller Filmkreativgewerke (außer Drehbuch- und Musikkreative), als es um die Verteilung der Kinoerlösbeteiligung ging, und im Jahre 2019 zwischen den Gewerken Dialogbuch, Synchronregie und Synchronschauspiel bei der Verteilung der Erlösbeteiligungen der Verleiher Constantin Film und Studiocanal. Und in beiden Fällen wäre ein Kompromiss ohne die „Kreativgruppenformel“, die den Verteilungsstreit zu versachlichen hilft, nicht möglich gewesen. Aufgrund der letzten Einigung im Synchronbereich musste diesmal bei der Findung eines Verteilungsschlüssels zur Netflix-Synchron-GVR das Rad nicht völlig neu erfunden werden. Der bereits 2019 erzielte Synchron-Kompromiss bleibt auch diesmal bestimmend für das Verhältnis zwischen den Gewerken Dialogbuch, Synchronregie und Synchronschauspiel. Aber „Kompromiss“ heißt eben auch: Mit ihm lässt sich leben, aber niemand ist glücklich mit ihm. Bis heute empfinden die drei Gewerke ihren jeweiligen Anteil als deutlich zu niedrig. Dass nun zusätzlich die Kreativen der Synchron-Tongestaltungsgewerks mitbeteiligt werden, findet die ausdrückliche Zustimmung auch des BFFS. Die Höhe ihres Gewerkanteils ist wiederum Ergebnis eines Kompromisses.

Die Netflix-GVR-Synchron sind im wahrsten Sinne des Wortes beispiellos – aber vorbildhaft

Mit dieser Vereinbarung und der bereits bestehenden mit den Verleihern Constantin Film und Studiocanal, die es auch ohne BFFS und ver.di nicht gäbe, sind wir hier in Deutschland absolute Vorreiter. Im europäischen Ausland und sogar weltweit sind solch verbindliche Folgevergütungszahlungen an Synchronschaffende weitgehend unbekannt. Zum einen sind Synchronisationen fremdsprachiger Produktionen nicht in allen Ländern üblich. Zum anderen gibt es dort wohl kaum solch hilfreiche Musterurteile, die hierzulande von einigen unserer prominenten Mitglieder erstritten wurden. So hielten die Vertragspartner ausdrücklich fest,

„… dass diese GVR auf die besondere Situation des deutschen Marktes und die einzigartige Regulierung und Rechtsprechung zurückzuführen ist, die die Regeln zur angemessenen Vergütung auch auf Synchronschauspieler anwendet, die für Deutschland spezifisch ist und außerhalb Deutschlands nicht gilt.“

Kein Wunder, dass der Global Player Netflix, als die Gewerkschaften BFFS und ver.di Mitte 2019 erste Gespräche mit ihm aufnahmen, zunächst nur auf Verhandlungen über Folgevergütungen für den Kreis der „klassischen“ Filmurheber*innen und Filmschauspieler*innen vorbereitet war und nicht auf die Aufforderung von BFFS und ver.di, auch über den Synchronbereich zu sprechen. Aber im Zuge des intensiven Austauschs mit Netflix und der erfolgreichen Abschlüsse zu Serien, zu Spielfilmen und zur betrieblichen Altersvorsorge über die Pensionskasse Rundfunk wuchs das gegenseitige Vertrauen. Schließlich entwickelten BFFS, ver.di, bvft und Netflix gemeinsam eine geeignete Lösung, damit auch Synchronschaffenden faire, angemessene und verbindliche Folgevergütungen erhalten und Netflix der „besonderen Situation“ hier in Deutschland gerecht wird.

Andere Streamingdienste – findet der BFFS – dürfen sich das Beispiel Netflix ruhig zum Vorbild nehmen.