Über tausend Zivilisten werden grausam abgeschlachtet, hunderte sind als Geiseln genommen und bedroht, ebenso massakriert zu werden. Blanker Terror – der hierzulande auch noch auf offener Straße gefeiert wird.
Mitglieder fragen unseren Bundesverband Schauspiel (BFFS). Sollte er sich nicht dazu äußern? Darf er das überhaupt? Muss unsere Gewerkschaft nicht politisch neutral bleiben und sich allein auf den in ihrer Satzung beschriebenen Zweck beschränken? Und zwar „die berufsständigen, berufsrechtlichen sowie die gewerkschaftlichen Interessen der in der Bundesrepublik tätigen Schauspielerinnen und Schauspieler zu vertreten“?
Ja, die Satzung setzt Grenzen. Der BFFS wird keine Wahlempfehlung geben, wird nicht jedes tagespolitische Ereignis kommentieren, wird nicht ständig Betroffenheitsgesten verstreuen – wenn nicht Schauspielinteressen berührt sind.
Aber in diesem Fall, ja, jetzt muss der BFFS sich äußeren!
Nicht nur, um Worte zu finden, für das was uns sprachlos macht. Nicht nur um menschliche Anteilnahme zu zeigen für die Opfer, auch für Mitglieder unter uns, die wegen ihres Glaubens noch gefährdeter sind als zuvor, oder für Mitglieder deren Angehörige unmittelbar von den Gräueltaten betroffen sind. Nein, wenn hierzulande abscheulichster Terror bejubelt wird, nicht nur „klammheimlich“ wie damals bei der RAF, sondern lauthals in aller Offenheit, dann erodiert das Fundament unseres Zusammenlebens, das Fundament, das alle, vor allem wir Schauspieler*innen für unsere Berufsausübung brauchen, letztendlich das Fundament, ohne das unsere Interessensvertretung nicht stattfinden, unsere Gewerkschaft nicht existieren kann: unsere pluralistische Gesellschaft, unser demokratischer Rechtsstaat.
Dieses Fundament gewährt uns die Freiheit, zu spielen, zu streiten, zu vertragen, zu irren, in Würde zu leben, zu lieben, für unsere Rechte und unser Glück zu kämpfen. Diese Freiheit müssen wir verteidigen. In dieser Freiheit darf kein Platz sein für Terror, Hass, Hetze, Antisemitismus, Rassismus, Misogynie, Homophobie … überhaupt für menschenfeindliche Umtriebe.
Je mehr der Terror unsere Gesellschaft unterwandert – und das tut er, siehe allein …
die Anschläge laut Wikipedia in diesem Jahr z. B. am:
18.10. versuchte Brandstiftung mit Molotowcocktails auf Synagoge in Berlin | 06.10. rechtsextremer Angriff mit Steinen auf Moschee in Siegburg | 25.09. Brandstiftung in Flüchtlingsunterkunft in Herborn | 14.08. homophob motivierte Brandstiftung bei einem Verein lesbischer Frauen in Berlin | 12.08. rechtsextremistischer, homophober Anschlag auf Homosexuellenverfolgungsdenkmal in Berlin | 12.08. rechtsextremistischer, antisemitischer Brandanschlag auf Holocaust-Büchergedenkstätte in Berlin | 03.08 Böller-Sprengsätze von Rechtsextremen auf Zirkus in Hungen | 20.06. Pistolenschuss auf Betreiber des ehemaligem Kiosk, der bereits im Jahr 2020 Ziel vom Anschlag in Hanau wurde | 10.06. wahrscheinlich rassistisch motivierte Jugendliche attackieren mit Flaschen eine Flüchtlingsunterkunft in Rosenthal-Bielatal | 07.05. rechtsextremistischer und rassistischer Angriff mit Knüppeln und Ästen auf eine Schulklasse in Heidesee | 18.04. islamistischer Messerangriff mit vier Verletzten in Duisburg | 09.04. islamistischer Messerangriff mit einem Toten in Duisburg | 09.03. Amoktat unter rechtsextremen, frauenfeindlichen und homophoben Einflüssen auf ein Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg mit neun Verletzten und acht Toten | 31.01. rassistischer Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkünfte in Marklkofen | 09.01. linksextremistischer Brandanschlag auf das Auto des Neonazi-Anwalts Wolfram Nahrath (auch das ist Terror) …
… oder allein die laut Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) registrierten 202 antisemitischen Vorfälle in den zehn Tagen nach den Gräueltaten am 07.10. …
– je tagtäglicher dieses Trommelfeuer sich ausbreitet, angestachelt von Hass und Hetze in allen Sozialen Kanälen, je mehr wir abstumpfen, manche von uns diesen Terror mit jenem relativieren oder gar rechtfertigen, je unschlüssiger wir sind, Freudentänze des Terrors – nicht nur in Neukölln – laut und deutlich zu verurteilen, desto bedrohter ist unsere Welt hierzulande, nicht zuletzt unser leicht verletzliches Schauspieldasein.
Wer in unserem Land keine Skrupel hat, gegen Menschen jüdischen, muslimischen oder anderen Glaubens, gegen Queere, Flüchtlinge oder Frauen zu hetzen, sie anzugreifen, sie zu töten, keine Skrupel hat, sich anschließend mit der Untat öffentlich zu brüsten, der wird irgendwann auch uns Künstler*innen als leichte Beute nicht verschonen, wie die Geschichte uns lehrt. Darum halten wir es nicht nur für gerechtfertigt, sondern auch geboten, uns als Berufsverband der Schauspieler*innen zu äußern, unseren bedrohten Nachbarn beizustehen und nach allen Kräften unsere Welt des friedlichen Zusammenlebens in Recht und Freiheit zu verteidigen.
Können wir uns wehren? Können wir unsere Ohnmacht überwinden? Können wir gegen den verbalen wie blutigen Terror und für Mit-Menschlichkeit kämpfen?
Unser Beruf ist, Menschen zu verkörpern und, selbst wenn die Rollen anders, ungewöhnlich oder fremd erscheinen, sie anzunehmen und zu verteidigen. Das erfordert von uns Mit-Menschlichkeit. Dafür haben wir, wie Max Reinhardt einmal sagte, unsere Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und uns damit auf und davon gemacht, um bis an unser Lebensende weiterzuspielen.
Zusammen mit den Bedrohten sind wir mächtig. Ja, wir können kämpfen – unsere Waffe ist das Spiel.
Heinrich Schafmeister, 1957 im Ruhrgebiet geboren, dort sozialisiert, wurde Straßen- und Rockmusiker, studiert an der Folkwang-Hochschule Schauspiel und arbeitet seit 1984 als Schauspieler. Er war seit Gründung des BFFS 17 Jahre lang dort im Vorstand zuständig für Sozialpolitik und Tarifverhandlungen und kümmert sich auch nach seinem Ausscheiden aus dem Vorstand als Bevollmächtigter um Tarifverhandlungen.